Jens Müller zur Zinsentwicklung: „Jedes Wort kann die Zinsen beeinflussen“
Herr Müller, wie liegen die Zinsen aktuell?
Jens Müller: „Der Zinsmarkt für langfristige Baufinanzierungen ist in Bewegung – wenn auch nicht besonders stark. Seit einigen Monaten gab es keine erheblichen Ausschläge. In den letzten Wochen konnten wir sogar wieder sinkende Zinsen beobachten. Aktuell befindet sich der Markt zwar nicht mehr auf dem historischen Topniveau, es herrscht aber trotzdem nach wie vor ein hervorragendes Zinsumfeld für Baufinanzierungen.“
Was hat diese Tendenz beeinflusst?
Jens Müller: „Den meisten Einfluss auf die aktuelle Zinsentwicklung nehmen politische Großereignisse beziehungsweise deren voraussichtliche Auswirkungen. Ein Beispiel: Kurz nach den US-Wahlen ‚frohlockte’ der Kapitalmarkt, weil Neu-Präsident Donald Trump vollmundig ankündigte, die heimische Wirtschaft massiv stärken zu wollen. Die Folge: Die Börse schwang sich euphorisch zu neuen Höchstständen, die US-Notenbank FED sah den Wirtschafts-Turbo kommen und erhöhte die Leitzinsen. Großanleger zogen Gelder aus dem Euroraum über den großen Teich. Das beflügelte hierzulande die Zinssteigerungs-Tendenzen. Mittlerweile tritt Trump allerdings deutlich auf die Bremse. Er übt auf die FED Druck aus, die Zinsen nicht weiter zu erhöhen.
Ein ganz anderes Beispiel: die Brexit-Entscheidung. Diese hat im letzten Jahr den Zinsmarkt überraschenderweise kaum beeinflusst. Denn in der Regel reagiert der Zinsmarkt auf politische Unsicherheiten und deren anzunehmende wirtschaftliche Instabilitäten mit sinkenden Zinsen. Beim Brexit allerdings blieb es ruhig. Scheinbar hat der Glaube an eine vernünftige wirtschaftliche Handhabung durch die Beteiligten beruhigend gewirkt.“
Sind auch heute noch Auswirkungen der US-Wahl und des Brexits spürbar?
Jens Müller: „Ich denke nicht. Nach meinen Beobachtungen haben beide keinen direkten Einfluss mehr auf unser Zinsumfeld.“
Herrscht deshalb nun vorerst Aufatmen am Zinsmarkt?
Jens Müller: „Ich finde Durchatmen trifft es besser. Der Präsidentschaftssieg von Emmanuel Macron bei den Wahlen in Frankreich war jüngst ein Zeichen. Macron steht fest zu Europa sowie zum Euro und will die französische Wirtschaft deutlich ankurbeln. Finanzmarktpolitisch ist das, was derzeit in Frankreich passiert, ein starkes Signal für Stabilität.“
Warum haben diese Großereignisse überhaupt so einen starken Einfluss auf den Zinsmarkt?
Jens Müller: „Großereignisse wie Wahlen erzeugen Stimmungen und transportieren Szenarien. Der Markt reagiert quasi hypothetisch und schnappt die wahrscheinlichsten Entwicklungen auf und richtet sich danach. Und zwar ohne dass sie schon real sind. Das macht den Markt auch so unberechenbar. Er reagiert intensiver auf Stimmungen als auf Fakten.“
Welche Geschehnisse könnten im Laufe des Jahres noch Einfluss auf die Zinsen nehmen?
Jens Müller: „Das ist es ja: Jeden Tag kann eine einzige Meldung, ja sogar eine einzige Aussage aus dem richtigen Mund die Zinsen beeinflussen. Ein Beispiel: 2015 gab der damalige FED-Chef Ben Bernanke völlig überraschend bekannt, dass die US-Notenbank ihre Anleihekäufe künftig massiv zurückfahren würde. Daraufhin stiegen die langfristigen Zinsen in Deutschland innerhalb von wenigen Wochen um ca. 0,60 Prozent. Nach sechs Wochen kassierte er seine eigene Aussage dann einfach wieder ein. Die Zinsen sanken nach und nach wieder.
Was ich damit sagen will: Wenn morgen schlechte Wirtschaftsdaten aus einem Land wie China oder den USA ans Licht kämen, würde dies kurzfristig Zinsauswirkungen nach sich ziehen. Dass solche Ereignisse Zinsen aber nachhaltig beeinflussen, darf jedoch nach Lage der Dinge in den meisten Fällen bezweifelt werden.“
Der Markt ist also schwer einzuschätzen. Probieren Sie es doch bitte trotzdem: Wie sind Ihre Prognosen für die kurz-, mittel- und langfristige Zinsentwicklung?
Jens Müller: „Grundsätzlich wird es interessant zu beobachten sein, wie und wann die Europäische Zentralbank (EZB) einen Ausweg aus ihrer ultralockeren Geldpolitik findet. Denn nur dann stehen wir vor einer wirklichen Zinswende. Aus diesem Grund halte ich den Zinsmarkt kurzfristig gesehen für stabil. Da der politische Druck auf die EZB aber steigt und sie bereits Anleihekäufe gedrosselt hat, gehe ich mittelfristig von einer leichten Steigerung bei den Zinsen aus. Auf lange Sicht ist eine Steigerung sehr wahrscheinlich.“
Herr Müller, vielen Dank für das Interview und den Einblick in die Welt des Zinsmarktes. Wir werden die kommenden Entwicklungen gespannt verfolgen – auch im Hinblick auf die kommende Bundestagswahl.